München | 17.01.2018
Die Leitungen der katholischen Großstadtpfarreien und -dekanate haben sich auf einer gemeinsamen Tagung mit Chancen und Herausforderungen von Seelsorge und kirchlichem Leben beschäftigt. Tagungsgast Armin Nassehi, Professor für Soziologie an der LMU, lieferte mit seinem Vortrag „Urbanität als Habitus“ wichtige Einblicke, welche Besonderheiten des Zusammenfindens im urbanen Raum reflektiert werden sollten: So finden in der Stadt Menschen, Ideen und Handlungen zusammen, die nicht zusammengehören wollen. Es kommt immerfort zu Kontakten mit fremden Personen und Vorstellungen. Fremde gehen nur dann miteinander um, wenn es gerade erforderlich ist, das Nicht-Wiedertreffen ist viel wahrscheinlicher. Der städtische Raum ist gekennzeichnet durch das Nebeneinander von verschiedenen Sicht- und Handlungsfeldern. Politische, ökonomische, kulturelle, mediale, religiöse und familiäre Handlungsräume existieren voneinander unbeeindruckt. Mal werden Menschen und Funktionen koordiniert, mal eben nicht. Der urbane Mensch ist mit diesen Bedingungen vertraut und eine Kommunikation über das Miteinander-in-Verbindung-treten und über das Voneinander-trennen ist aus diesem Grunde nicht notwendig. Eine solche Thematisierung wäre sogar für den Ablauf dieser Prozesse störend. In den urbanen Entwicklungsräumen können sich Ideen und Aktivitäten in eigenständigen Bereichen entfalten. Unterschiedlichen Prozesse finden statt, ohne dass sich einzelne Akteure einander vorstellen oder sich anderen gegenüber erklären. Urbanität sei, so Professor Nassehi, miteinander erlebte Indifferenz. Der Andere könne der Andere sein und bleiben, er könne aber auch mit einem Mal für einen Austausch herangezogen werden. Er könne plötzlich dazugehören, wenn keine hochschwelligen Barrieren vorhanden sind. Ein solches Zusammenkommen ist nicht kognitiv gesteuert, es vollzieht sich unabhängig von Denkweisen und Vorurteilen, wenn miteinander fremde Menschen spontan zusammenwirken und wieder auseinandergehen.
Aufgrund dieser Mechanismen ist das urbane Feld ein einmaliger Raum, der Chancen bietet, mit Kirche in Kontakt zu treten. Die Kirche ist in der Stadt präsent durch karitative und kulturelle Angebote, beispielsweise durch Konzerte oder Ausstellungen, die mit Andachten verbunden werden. Ferner gibt es kirchliche Bildungsangebote, die die Möglichkeit einräumen, dass Menschen hinzukommen, einfach mitmachen und dabei bleiben. Dieses Hinzustoßen von Menschen ist eine Riesenchance, gerade auch deshalb, weil es intuitiv zur Begegnung kommt. Diese Offenheit der Menschen muss mit einer Offenheit der Kirche und einer reichen Präsenz vor Ort in unterschiedlichen Zusammenhängen korrespondieren. Falsche Ansätze sind dann gegeben, wenn vermeintlich Außenstehende in geschlossene Kontexte eingeladen werden. Eine Teilnahme muss vielmehr als eine Option erscheinen, die immer wieder ergriffen werden kann. Die Geschlossenheit von kirchlichen Räumlichkeiten darf keineswegs ein Hindernis für die Einbindung von kirchenfernen Personen sein. Ein Vorteil von Veranstaltungen in städtisch-kirchlichen Räumen ist gerade die Möglichkeit der anonymen, partiellen Teilnahme. Hier sei es durchaus von Vorteil, dass man vielfach unsichtbar bleibe, nichts gefragt werde und dass niemand die Gründe einer Teilnahme darlegen müsse. Wichtig ist es aber, für Hinzukommende Andockmöglichkeiten verschiedenster Art zu schaffen, die für alle Besucher sichtbar sind. Andockmöglichkeiten, die angesteuert werden können, wenn eine Vertiefung gewünscht ist, wenn das Bedürfnis entsteht, sich anders oder intensiver einzubringen. Solche Andockpunkte müssen sich an der Präsenz der Kirche im öffentlichen Raum orientieren, und sie sollten losgelöst sein vom Territorialprinzip der städtischen Kirchengemeinden, mahnte Weihbischof Graf zu Stolberg, der Bischofsvikar für die Seelsorgsregion München, an. Das Motto „Du bist entweder richtig dabei oder Du bist nicht dabei“, ist im urbanen Umfeld nicht vermittelbar und dieser Gedanke untergräbt schon im Vorfeld das missionarische Potenzial. Katholische Gruppen, die in sich geschlossen sind und die sich darauf beschränken, in ihren Zusammenkünften eine gemeinsame Identität auszubilden, um vielleicht irgendwann auf dieser Grundlage missionarisch tätig zu sein, können den urbanen Ansprüchen, miteinander zu agieren, nicht gerecht werden. Die Münchner Tagung hielt hingegen mit dem Prinzip der Offenheit und dem Gedanken der Andockpunkte wichtige Impulse bereit.